Die kurze Antwort darauf ist: Nein! Studien zeigen, dass Abhängige, die beispielsweise wegen gerichtlicher Auflagen eine Suchttherapie machen, mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit clean werden, wie die, die tatsächlich ganz unten angekommen sind und freiwillig Hilfe suchen.
Doch was bedeutet eigentlich „ganz unten ankommen“? Versuchen wir es näher zu definieren. Üblicherweise kommt man „ganz unten an“, wenn viele äußere Umstände so zusammenkommen, dass es „Klick“ im Kopf macht und man denkt: „Es reicht, nicht weiter!“. Bei den Anonymen Alkoholikern hört man im Amerikanischen häufig den Ausdruck "you suddenly become sick and tired of being sick and tired" (frei übersetzt: Irgendwann bist Du es leid zu leiden). In der Realität kommen Menschen aber oft ganz unten an, ohne dass es plötzlich „Klick“ macht.
Als ich zum ersten Mal ganz unten angekommen war, wurde ich wegen eines Blutgerinnsels in meinem Bein ins Krankenhaus eingewiesen. Dies war Folge meines intravenösen Crystal-Konsums. Solch ein Blutgerinnsel kann zum Herzen oder zur Lunge wandern. Da hört doch irgendwo der Spaß auf. Jetzt würde man denken, es müsste bei mir „Klick“ gemacht haben. Ich war fünf Tage im Krankenhaus und fest entschlossen, nach meinem Krankenhausaufenthalt clean zu bleiben. Ich hatte mir vorgenommen, ein Abstinenzprogramm zu beginnen und an den wöchentlichen Treffen von mehreren anonymen Selbsthilfegruppen für Crystal-Betroffene (Crystal Meth Anonymous = CMA) in meiner Gegend teilzunehmen. Das Krankenhaus habe ich mit einem Gehstock verlassen und mit einer Wade, die so groß war wie eine kleine Wassermelone.
Ich dachte, dass die körperlichen Beeinträchtigungen ausreichen würden, um mich zum Aufhören zu bewegen. Immer wenn ich das Verlangen hatte zu konsumieren, müsste ich ja eigentlich nur meine Wade anschauen, um mich daran zu erinnern, welche schlimmen Auswirkungen meine Sucht hat. Doch nur zehn Tage später hatte ich wieder eine Meth-Pfeife im Mund. Denn die Wahrheit ist: Schwerwiegende gesundheitliche Folgen zu erleben, reicht alleine meist nicht aus, um eine Sucht langfristig zu überwinden. Mein Blutgerinnsel war trotzdem der Anfang vom Ende meiner Sucht. Drei Monate hat es gedauert, mit wechselnden Phasen von Konsum und Abstinenz und mit vielen weiteren kleinen Abstürzen, bis ich schließlich clean war.
Ich kenne eine Frau, die erst aufgehört hat, als es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihre Familie von ihrem Meth-Konsum erfahren hätte. Sie hatte eine Wohnung, einen Job und konnte sich gerade so über Wasser halten. Ihre gesundheitlichen Probleme häuften sich allerdings schon seit längerem. Ihr war bewusst, dass jeder weitere Rausch dazu hätte führen können, dass ihre Familie und ihre Freunde von ihrem Konsum erfahren.
Mir erzählte sie später, dass sie den Verlust der Wohnung und des Jobs in Kauf genommen hätte. Aber ihr älterer Bruder war bereits am Meth-Konsum gestorben. Sie wollte es ihren Eltern einfach nicht antun, dass sie nun auch noch ihre Tochter verlieren - wieder an Meth. Letztlich hat genau dies dazu geführt, dass sie sich Hilfe gesucht hat und endgültig clean geworden ist. Allerdings wartete sie bis zum letzten Augenblick und führte dann eine ambulante statt einer stationären Reha durch, damit sie es vor ihren Eltern verheimlichen konnte. Die Reha war erfolgreich und sie ist bis heute clean.
Die Situation dieser Frau nennt man in der Selbsthilfe ein „hohes Tief“. Damit ist gemeint, dass sie noch nicht so tief gefallen ist, dass sie mit einer akuten Komplikation in ein Krankenhaus eingewiesen werden musste. Man könnte sogar sagen, dass sie überhaupt noch nicht ganz unten angekommen war. Für jeden Betroffenen kann es also ein anderer innerer oder äußerer Auslöser sein, der letztlich den Anfang für den Ausstieg aus der Sucht darstellt.
Ich kenne einen ehemaligen Abhängigen, dessen Abgrund erreicht war, als er nach Tagen realisierte, dass er in seiner Wohnung mit nur noch einer Matratze und einem Laptop hauste und sich seit mehreren Tagen aus der nahegelegenen Mülltonne einer Fast-Food-Kette ernährte. Auch er hat es geschafft und hat die Sucht überwunden.
Egal also, ob und wie Du Deinen individuellen Tiefpunkt erreichst, oder ob Du wegen eines Gerichtsbeschlusses oder vielleicht für einen anderen Menschen aufhören willst: Das Wichtigste ist, dass Du Dich irgendwann